20. März 2013

Les Misérables

Stellt euch vor, es ist Revolution und keiner geht hin. Stellt euch vor, ihr müsstet euch zwischen der Loyalität zu euren Freunden und der Liebe eures Lebens entscheiden. Stellt euch vor, es gebe nur noch eine einzige Möglichkeit eurer Kind zu ernähren und ein Dach über dem Kopf zu geben. Stellt euch vor, ihr hättet eurem besten Freund bereits mehrmals eure Zuneigung gestanden, diese aber trotz massiver Selbstaufopferung niemals erwidert bekommen. Und stellt euch vor, euer schlimmster Erzfeind rettet euch das Leben. Übt ihr weiter Hass auf ihn aus oder vergebt ihr ihm? Wie würdet ihr reagieren? In Les Misérables sehen sich die vielen Hauptcharaktere mit diesen Szenarien konfrontiert und müssen sich oftmals zwischen Pest und Cholera entscheiden. Daher auch der "elendige" Titel, "Die, denen es miserabel ergeht". Passend zur diesjährigen Oscar-Verleihung vor inzwischen schon etwas längerer Zeit, 4 Wochen in etwa, habe ich jetzt endlich einen der vielen prämierten Filme zu Gesicht bekommen! Und im Gegensatz zu dem Jahr 2004, in welchem Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs alle Konkurrenten vom Platz gefegt hat, gab es dieses Jahr keinen wirklich großen Gewinner. Also mal sehen, ob zumindest das Musical-Epos Les Misérables seine Auszeichnungen verdient hat...




Das Stück bzw. der Film beginnt in Frankreich um zirka 1815. Also nicht allzu lange nach der französischen Revolution. Der Großteil der Bevölkerung lebt nach wie vor in Armut und kämpft jeden Tag aufs neue ums Überleben. Die erste Szene zeigt die Freilassung Jean Valjeans (Hugh Jackman), welcher 19 Jahre gesetzlich auferlegte Zwangsarbeit absolvierte, da er für seinen hungernden Neffen ein Laib Brot gestohlen hat und anschließend vor der Exekutive fliehen wollte. Freigelassen wird er von Oberaufseher Javert (Russell Crowe) leider nicht ganz. Javert entwickelte seit seiner Kindheit nämlich wegen negativen Erfahrungen eine derartige Wut auf die soziale Unterschicht und generell Gesetzesbrechern, sodass er seine Abneigung gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe nun an Valjean auslässt und diesen in seinen persönlichen Papieren als Dieb und Gefahr für die Gesellschaft brandmarkt. Und um das Fass zum Überlaufen zu bringen, setzt er Valjean nur auf Bewährung frei, sodass sich dieser wöchentlich bei einem Polizeiamt zu melden hat. Dementsprechend schlecht läuft auch Valjeans darauffolgende Jobsuche und sein einziger Ausweg aus der Hungersnot und Obdachlosigkeit ist es abermals zu stehlen. Doch dieses Mal verzeiht ihm sein Opfer und Valjean schwört sich, die gestohlene Ware dazu zu verwenden, ein besserer und vorbildlicher Mensch zu werden, welcher anderen, soweit es möglich ist, zu helfen versucht. Mit seinen Papieren kann er dies leider nicht und so taucht er illegal eine Weile unter und nimmt eine neue Identität an.

Ein großer Zeitsprung von mehreren Jahren findet in der Erzählung statt und setzt ein, als eine junge Mutter, Angestellte einer Textilfabrik, von dem dortigen Personalmanager gefeuert wird. Es stellt sich heraus, dass Valjean Chef dieser Fabrik und sogar Bürgermeister der Stadt geworden ist. Zeitgleich trifft Valjean auf Javert, welcher ebenfalls in der Karriereleiter zum Oberpolizeiinspektor (oder sowas) hochkletterte und seinen entflohenen Ex-Sträfling, der sich ja nicht mehr bei den behördlichen Institutionen gemeldet und somit gegen seine Bewehrungsauflagen verstoßen hat, immer noch sucht. Doch erkennt Javert Valjean nicht sofort als eben diesen Ex-Sträfling. Die vorhin erwähnte Mutter namens Fantine (Anne Hathaway) kann seit ihrer Kündigung ihr Kind nicht mehr ernähren und da es Frauen im Frankreich des 19. Jahrhunderts ohne Ehemann generell etwas schwerer haben (um es euphemistisch auszudrücken), sieht sie keinen anderen Ausweg als in die Prostitution. Dort wird sie zufällig von Valjean (der Typ läuft verdammt oft zufällig in ältere Bekanntschaften...) entdeckt und aufgrund ihrer physischen Verfassung in ein Krankenhaus gebracht. Dort beichtet sie Valjean, dass sie das alles nur tat um ihre Tochter Cosette vor so einem Leben zu schützen, stirbt aber noch in derselben Nacht. Valjean, welchem wegen Fantines Kündigung ein immens schlechtes Gewissen plagt, will seine Schuld ihr gegenüber begleichen, sucht ihre Tochter auf und will diese unter anständigen Bedingungen großziehen. Doch mittlerweile ist ihm Javert auf die Schliche gekommen und Valjean muss mit seiner selbsternannten Tochter schon wieder in den Untergrund abtauchen.


Jean Valjean (Hugh Jackman) bei der Zwangsarbeit. 
Mir gefällt der dezente Regenbogen links im Bild.


Ein weiterer Zeitsprung von mehreren Jahren erfolgt und glaubt es, oder nicht, dass war erst mal nur die Vorgeschichte und die erste Dreiviertelstunde des Filmes! Im nächsten Akt kommen sogar noch 5 Charaktere und doppelt so viele zwischenmenschliche Beziehungen dazu. Cosette verliebt sich in einen jungen Studenten namens Marius, dieser auch in sie. Marius ist sehr politisch und kritisch gegenüber Staat und Königshaus, und will mit Freunden eine zweite französische Revolution anzetteln. Éponine, beste Freundin Marius' und ehemalige Stiefschwester Cosettes, ist irrsinnig verknallt in genau diesen, wurde aber von ihm in die Friendzone geschickt. Cosettes ehemalige Stief-/Pflegeeltern wollen ihre Tochter zurück bzw. Valjean ob seines Geheimnisses erpressen und schicken deshalb Javert dem untergetauchten Valjean auf den Hals. Und und und. Wenn ich hier jeden Charakter in die Inhaltsangabe einbinden würde, sitze ich bis zur nächsten Oscar-Nacht noch hier, und darauf habe ich nicht ganz so viel Lust. Die Tiefe und Komplexität ist auf jeden Fall ein sehr großer Pluspunkt für den Film, würde aber den Rahmen eines Onlinereviews sprengen. Daher breche ich an dieser Stelle mit der Inhaltsangabe ab. Merkt euch trotzdem: die Story ist top! Obwohl sie andererseits durch die Anzahl der handelnden Figuren sehr verstreut wird. Manchmal hätte ich doch mehr über die ein oder andere Person und ihre inneren Konflikte bzw. über ihre Konflikte mit anderen Personen erfahren. Denn für einen 2 1/2 Stunden-Film ist die Handlung schon fast zu tief und komplex, um in der notwendigen Zeit erzählt zu werden. Viel zu gern hätte ich mehr Szenen zwischen Javert und Valjean gesehen. *seufz* Interessanterweise scheint dies den Produzenten aber durchaus klar gewesen zu sein, da die meisten Charaktere von ihrer Persönlichkeit doch sehr flach und fast schon klischeebeladen gehalten wurden. Dies könnte aber wiederrum auf die Originalvorlage Les Misérables, ein Roman von Victor Hugo von 1862, zurückzuführen sein.

Aber eigentlich basiert der Film ja gar nicht auf dem Buch, sondern auf dem Musical zu dem Buch! Irgendwer dachte sich wohl (zurecht), es sei eine super Idee aus der Buchvorlage ein Schauspiel mit Gesang zu produzieren. Und gesungen wird in dem Film sehr viel! Um genau zu sein, kann man die gesprochenen Sätze an zwei Händen abzählen, aber dies macht in den meisten Fällen nichts, da alle Schauspieler scheinbar intensiven Gesangsunterricht nahmen und unglaublich gut singen können! Natürlich bleibt es Geschmackssache, ob einem der Gesang gefällt, aber abzustreiten, dass die Darsteller gut singen können, sollte einem doch recht schwerfallen. Einzig bei den choralen Passagen wären Untertitel nett gewesen, da bei diesen doch das ein oder andere Wort verschluckt wird bzw. diese Passagen für Nicht-Muttersprachler der englischen Sprache nicht ganz so leicht zu verstehen sind. Dennoch würde ich die originale englische Kinoversion der deutschen vorziehen, da die Texte einfach besser auf die Buchvorlage abgestimmt wurden.


Vive la France!

Nun zu den Oscars. Les Misérables gewann Oscars in den Kategorien bestes Make-Up und Hairstyling, bester Tonschnitt und beste Nebendarstellerin. Gut, zum ersten Punkt, kurz und schmerzlos: die Darsteller wurden wirklich so hergerichtet, wie man sich die soziale Unterschicht des 19. Jahrhunderts vorstellt. Spitzenarbeit! Warum der Film aber in der Ausstattung nicht gewonnen hat, überrascht eher wenig. Vor allem, da die Räumlichkeiten und sonstigen Requisiten genau wie beim Musical sehr provisorisch und minimal eingesetzt wurden. Der Fokus wurde hier eindeutig auf die Inszenierung der Charaktere gelegt, was man übrigens ebenfalls an Tom Hoopers (bekannt für The King's Speech) typischer, dezentraler Kamerapositionierung erkennt. Die Gesichter der Figuren sind sehr oft nah vor der Kamera in Großaufnahme und leicht vom Zentrum verrückt, sodass man stets noch einen Blick auf das Geschehen hinter diesen Personen hat. So erlebt man die Charaktere viel mehr in ihrem situationsadäquaten Kontext und sie wirken dadurch wesentlich menschlicher.

Der Oscar für besten Tonschnitt war wohl für ein verfilmtes Musical zu erwarten, warum zur Hölle das singende Starensemble bizarrerweise nicht auch den Oscar für die beste Filmmusik erhielt, bleibt mir trotzdem schleierhaft... Ich mein, das ist ein Musikfilm! Mir kann keiner erzählen, dass andere Filme mehr Arbeit und Ambition in ihre Filmmusik gesteckt haben als dieser hier. Man, man, man... nichts mehr hinzuzufügen, denn die Musik ist das wohl größte Highlight in Les Misérables. Eine Schande, dass sie nicht beste Filmmusik erhielten, bleibt einem doch noch lange nach dem Kinobesuch ein Ohrwurm von dem ein oder anderen Lied.

Und nun zu dem wohl umstrittensten Oscar, über den man diskutieren kann, und über welchen in vielen Foren und Onlinefilmdatenbanken hitzig debattiert wird: beste Nebendarstellerin.
Let the Flame-War begin! 
NEIN! Einfach nur NEIN! Anne Hathaway hat gerade einmal 25 Minuten Leinwandpräsenz, wenn es hochkommt. Dafür verdient man keinen Oscar, NEIN! Die Schauspieler singen und spielen ihre Rollen alle mit immens großer Hingabe und befinden sich durchschnittlich auf dem selben Niveau. Anne Hathaway spielt weiß Gott nicht besser. Besonders ihre erste Szene in der Fabrik war unglaublich schwach. Da habe ich den wirklichen Nebendarstellern (diejenigen, die in den Credits gaaaaanz unten erst erscheinen) ihre Rollen noch viel eher abgekauft! Sie bekam genau für eine, ich wiederhole, eine einzige Szene den Oscar. Nämlich für ihre Interpretation des Liedes I dreamed a Dream. Und ja, sie singt dieses Lied außerirdisch schön und mit viel Emotion. Aber nur weil sie 5 Minuten lang auf die Tränendrüse drückt, hat sie vielleicht eine herzliche Umarmung, einen Blumenstrauß oder viel Applaus verdient, meinetwegen auch Standing Ovations, aber gleich eine so hochanerkannte Auszeichnung??? In den letzten Jahren entwickelt sich in Hollywood allmählich der Trend, Oscars nicht wegen herausragende schauspielerische Leistungen, sondern wegen dem Lebenswerk der letzten Jahre zu vergeben. Sandra Bullock hat in Blind Side 2009 auch nicht überdimensional gut gespielt, sondern ihren Oscar nur erhalten, weil sie schon in unzähligen Filmen davor mitspielte und es "angeblich"(!) längst überfällig war. Diese Meinung teile ich einfach nicht und ja, na gut, kann nix dagegen machen. Aber bitte formt euch diesbezüglich selbst eine Meinung. Schauspielerische Leistungen sind wie immer subjektive Einschätzungen des Betrachters und können genau wie bei Gesang/Musik verschieden sein. Anne Hathaway ist auf jeden Fall richtig gecastet und spielt super, keine Frage! Oscar hätte ich ihr trotzdem keinen gegeben.

Jetzt habe ich aber auch schon genug geredet und euch gelangweilt, und komme lieber prompt zu meiner Empfehlung: wenn euch der Gedanke an permanentes Singen abschrecken sollte, oder ihr generell keine Musicals mögt, dann werdet ihr mit diesem Film wohl wenig Freude haben. Der große, außergewöhnliche Blockbuster ist Les Misérables meiner Meinung nach nicht geworden, aber dank der Handlung und der überaus gekonnten Inszenierung ein guter Film und durchaus einen Kinobesuch wert. Für Musical-Fans ist dieser Film sowieso ein Must-See!

santi



Post Scriptum:
Hier habt ihr noch ein paar Links zu Bildern, welche Tom Hoopers typische Kameraführung, welche man auch in The King's Speech reichlich zu sehen bekommt, veranschaulichen sollen. Er verwendet sie zwar gerne, aber selbstverständlich nicht exzessiv.